Das Wetter in Ungarn

Essay, Augustin, Nr. 325, Juli 2012

Bis vor zwei Wochen konnte, wer Ungarn besuchte, die groß angelegte Werbekampagne nicht übersehen, die unter dem Motto „Ön mit gondol?“ (Was meinen Sie?) für die Teilnahme an der Volksbefragung 2012 warb. Die Plakate zeigten Männer mit hochgekrempelten Ärmeln, Frauen mit Kind auf dem Arm, Bauarbeiter im Blaumann etc., und alle hielten sie, ihre Arbeit unterbrechend, kurz inne, um dem Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der auf den Bildern aber nur als Unterschrift anwesend war, ein paar Fragen zu beantworten.

Dass die „Nemzeti Konzultátió“ (Nationale Anhörung) ein propagandistisches Instrument ist, mit dem sich die regierende Koalition aus FIDESZ (Bund Junger Demokraten) und KDNP (Christlich-Demokratische Volkspartei) ihre Politik absegnen lässt, ist ein offenes Geheimnis. Kaum jemanden gibt es, der diese „Kosultation“ ernst nimmt. Schon bei der Volksbefragung 2011, deren Thema die neue Verfassung war, wurden nur rund 10 Prozent aller Fragebögen retourniert.

Nun könnte man sagen, die Volksbefragung, in der es diesmal um Sozial- und Finanzpolitik geht, wäre eine Möglichkeit, einer möglichen Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen – einer Unzufriedenheit übrigens, die beständig wächst. Die Verfasse des Fragebogens haben diese Möglichkeit jedoch nicht vorgesehen. Da wird zum Beispiel gefragt, ob man für eine gerechte Verteilung der Staatslast innerhalb der Gesellschaft sei, ob man der Aussage zustimme, Banken müssten bei der Bewältigung der Krise mit in die Pflicht genommen werden, ob Frauen mit Kindern unterstützt und ob Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen, gefördert werden sollen. Diejenigen, die dennoch, vielleicht aus bloßem Protest, mit Nein antworten möchten, werden abgeschreckt: Seit dem Versand der Fragebögen wird hinter vorgehaltener Hand über einen ominösen Barcode diskutiert, der sich auf Bögen und Kuverts befindet und der vermutlich zur Rückverfolgung der eigentlich anonymen Antworten dient.

DER KONSTRUIERTE VOLKSWILLE
Ich lebe seit rund einem Jahr in Budapest, arbeite als Lektor an der Eötvös Loránd Universität und gestalte unter anderem eine deutschsprachige Sendung bei Civil Rádió, einem freien Radio in Budapest. Dort ist man den derzeitigen politischen Umwälzungen besonders ausgesetzt und deshalb eigentlich sehr hellhörig. Dennoch verfehlt die Pfiffigkeit Orbáns ihre Wirkung nicht. Einer der Programmkoordinatoren von Civil Rádió sagte mir kürzlich, das Ergebnis der Befragung stehe ohnehin schon fest, und was die Regierung mit diesem Ergebnis machen werde, ebenso: Sie werde sich selbst loben und weitermachen wie bisher. Es steht aber zu vermuten, dass diese Abgeklärtheit trügerisch ist und ein Grunddilemma des derzeitigen Ungarn beschreibt: Es ist nämlich ganz und gar nicht klar, wofür FIDESZ das Ergebnis der Befragung verwenden wird. Seit Antritt der Regierung im April 2010 gab es genügend politische Entscheidungen, die unerwartet waren, willkürlich und unüberlegt wirkten und sich erst im Nachhinein als Teil eines größeren Plans herausstellten. In gewisser Weise ist Orbán gerade wegen seiner präzis berechnenden Politik unberechenbar.

Wie gut Orbán und seine Leute es verstehen, sich in eine praktisch unantastbare Position zu hieven, zeigt nicht nur die radikale Skrupellosigkeit, mit der sie den Staat bei erster Gelegenheit, nämlich mit Erlangung der Zweidrittelmehrheit, umgebaut und auf die Bedürfnisse ihrer Politik zugeschnitten haben, sondern auch wie sehr es ihnen gelingt, sich selbst nicht als Machthaber, sondern als bloße Verwalter der Macht darzustellen. In der Volksbefragung etwa beginnen alle 16 Abschnitte mit der Formel „Es gibt Leute, die sagen …“, um am Ende in die Frage zu münden: „Was meinen Sie?“ Abgesehen davon, dass man den politischen Diskurs mit einer solchen Rhetorik auf das Niveau von Nachbarschaftstratsch drückt, wird hier eine diffuse Volksmeinung konstruiert, um postwendend das Volks zu befragen, ob es a.) dieser angeblichen Volksmeinung zustimme und ob es b.) der Regierung damit auch den Auftrag erteile, den erklärten Volkswillen zu exekutieren. Orbán schafft sich damit einen weiteren Beleg für die Richtigkeit des Bildes, das er gern von sich selbst zeichnet: Ein Politiker, der, obgleich mit ungeteilter Macht ausgestattet, nicht als Machthaber agiert, sondern ausschließlich als ein Verwalter eines höheren Willens.

KLUGES WETTER
Wenn ich mit meinen Studenten und Studentinnen über die politische Entwicklung Ungarns zu sprechen versuche, begegne ich einer stark resignativen Haltung. Warum solle man sich, so der Tenor, über etwas den Kopf zerbrechen, das man ohnehin nicht beeinflussen könne. Wer dieses „man“ ist, bleibt ungeklärt; vielleicht lässt es sich mit den „Leuten“, die „es“ laut Volksbefragung „gibt“ gleichsetzen, ein diffuse Masse ohne eigenes Bewusstsein, die sich nirgendwo konkretisiert. Ich habe meine Studenten und Studentinnen als intelligente und begeisterungsfähige junge Menschen kennengelernt; aber was das Politische betrifft, wird ihnen ein Selbstverständnis antrainiert, das Passivität und Ergebenheit zur angemessenen Haltung erhebt. Gegen eine Regierung mit Zweidrittelmehrheit ist aber in der Tat wenig auszurichten, und die Erfahrung zeigt, dass Proteste und sonstige Initiativen zwar erlaubt sind, aber folgenlos bleiben. Es ist ähnlich wie bei schlechtem Wetter: Man kann sich zwar aufregen, aber es bringt nichts; und so wird, meiner Erfahrung nach, in Ungarn derzeit über Politik gesprochen: Wie übers Wetter.

Als Schirm, den man für den Fall eines Wolkenbruchs gern bei sich hat, bietet sich sich nun wiederum Viktor Orbán an. In seiner Rede 15. März 2012, dem Nationalfeiertag anlässlich der Revolution gegen die Habsburger 1848, sagte er, die neue ungarische Verfassung repräsentiere das Versprechen eines zukünftig freien Ungarns, woraufhin im Publikum der Ruf „Wir werden es beschützen!“ skandiert wurde. Beschützen will Orbán das Land vor dem Zugriff Brüssels, das er als das „neue Moskau“ bezeichnet, dem wirtschaftlichen Bankrott und politischen Unruhen.

Paradoxer Weise funktioniert das Bild Orbáns als Schutzengel manchmal sogar bei Ausländern, obwohl FIDESZ alles andere als eine ausländerfreundliche Politik betreibt. Als ich sagte, ich wolle mich am Nationalfeiertag unter die Leute mischen und sehen, wie die Feierlichkeiten begangen werden, meinte einer meiner deutschen Kollegen, er halte das für gefährlich, denn gerade am Nationalfeiertag könne man von einer besonderen Enthemmung der Nationalisten ausgehen und da sei es als Ausländer nicht empfehlenswert, sich als Objekt anzubieten. Wenn ich unbedingt irgendwohin gehen wolle, dann zum Kossut Platz, wo Viktor Orbán seine Ansprache halte, denn wo Orbán spreche, sei es noch am sichersten.

DIE FEHLENDE OPPOSITION
Orbán, so meinte einer meiner ungarischen Bekannten, sei schon okay, Orbán sei ja nicht das Problem, sondern dass es niemanden gebe, der ihm entgegentrete. Natürlich gibt es Oppositionsparteien wie die Sozialdemokraten und die LMP („Eine andere Politik ist möglich“). Die LMP, eine Partei ähnlich unserer Grünen, ist aber marginal, und die Sozialdemokraten haben sich durch Inkonsequenz und Vetternwirtschaft während ihrer Regierungszeit disqualifiziert. Nicht, dass FIDESZ weniger korrupt oder eigennützig handelte – wenn man den Darstellungen der regierungskritischen Online-Zeitschrift Pester Lloyd Glauben schenken darf, herrscht in der derzeitigen Regierung Freunderlwirtschaft par excellence – , aber sie verfügt eben auch über die Möglichkeit jedes Gesetz so zu ändern, dass das eigene Handeln vielleicht moralisch verwerflich, aber doch nicht gesetzwidrig ist.

Als ich kürzlich einer ungarischen Freundin erzählte, mir komme vor, die Ungarn reagierten auf die Politik wie auf den Wechsel von Regen und Sonne, meinte sie schmunzelnd: „Das Beste an Ungarn ist das Wetter.“ Die Politik Orbáns, die wie eine Wolkendecke über Ungarn liegt, scheint mir jedenfalls tatsächlich das Beste und Konsequenteste zu sein, was Ungarn an Politik seit langem erlebt hat, zumindest, was ihre strategische Qualität betrifft. Ob sie auch für das Land gut ist, darf bezweifelt werden. Für wen existiert das Wetter, außer für sich selbst?

(Andreas Kurz)

2 Gedanken zu „Das Wetter in Ungarn“

  1. Gute, präzise Schrift über Ungarn – auch wenn schon länger her ist – aber noch immer gültig, in immer stärker werdender Hoffnungslosigkeit im Lande…
    Es freut mich sehr, deine Arbeit entdeckt zu haben!
    Lieben Gruß,
    Eva Sarközi Pusztai
    (Ursls Freundin – lese auch mit großer Freude „den Blick durch die Baumkrone…)

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