Ungarn wird umgebaut

Reportage, Kupf-Zeitung Nr. 141, 2/2012

Wer zum ersten Mal mit der Bahn von Wien nach Budapest fährt, wird sich fragen, warum man die Stadt am Keleti Pályarudvar erreicht, am Ostbahnhof, wo man doch eigentlich von Westen kommt. Dass der Nyugati Pályarudvar, der Westbahnhof, im Nordosten der Stadt liegt und keine Anbindung Richtung Westen hat, ist ebenso verwunderlich wie der Umstand, dass der westlichste Bahnhof Budapests, Kelenföld, eine heruntergekommen Durchgangsstation ist.

Als ich im Juni 2011 zum Vorstellungsgespräch hierher fuhr, sprang ich an eben dieser Station Kelenföld auf – Kelet… und Kelen… klang für mich noch sehr ähnlich – und stand, nachdem ich von drei Pendlern auf ungarisch beruhigt worden war, eine viertel Stunde am Gangfenster, während der Zug eine weite Schleife um die Stadt fuhr. Dann stieg ich am Keleti aus, versucht mich mithilfe meines Stadtführers zu orientieren und stellte fest, dass die Karte, obwohl erst vor kurzem aktualisiert, heillos veraltet war. Straßen und Plätze trugen neue Namen, auch Metro-Stationen hießen anders. Wenn ich heute – im Februar 2012 – zum ersten Mal in die Stadt käme, ich würde ähnliches erleben, diesmal mit Theaternamen und Lokalen, wie dem weithin bekannten Gödör, einem alterantiven Musikclub, dessen Räumlichkeit den Betreibern vor kurzem entzogen wurde. Mitte Januar war der entsprechende Entschluss der Stadtverwaltung bekannt geworden, am 1. Februar existierte das Lokal schon nicht mehr. Nun findet man an der Tür den Aufkleber Nagy Magyarország. Die Stadt ist, wie das gesamte Land, in radikalem Umbau begriffen.

MENSCHEN UND IHRE SPRACHE
Als Gastlektor der hiesigen Universität bin ich ständig mit dem Thema Fremdsprachenlernen konfrontiert, und es ist erst einmal nicht weiter erstaunlich, dass sich mit einer neuen Sprache auch ein neuer Kulturkreis eröffnet. Das hat allerdings für eine Person, die einer Sprachgemeinschaft von weniger als 15 Millionen Sprechern weltweit angehört, eine andere Bedeutung, als für eine Person, die Deutsch spricht (170 Mio) und zusätzlich Englisch und Französische gelernt hat. Wie sehr die Offenheit eines Landes mit der Mehrsprachigkeit seiner Bürger zusammenhängt, ist mir noch nie so deutlich worden wie hier. Dass Ungarisch nur in Ungarn gesprochen wird und mit den anderen mitteleuropäischen Sprachen in keiner Weise verwandt ist, dürfte ein nicht unwesentlicher Grund sein für die Sonderstellung dieses Landes in der Geschichte und heute: Die Mehrheit der Ungarn verfügt über keine oder sehr mangelhafte Fremdsprachenkenntnis, und somit verschließen sich ihnen die gesamt nicht-ungarische Welt.

Die Anbindung nach West und Ost ist also nicht nur eine Frage des Bahnverkehrs. Es will mir so scheinen, als käme das doch recht abgekapselte Dasein dieses Landes der derzeitigen ungarischen Regierung gar nicht ungelegen. In Zeiten der Krise, heißt es, müsse das Nationalgefühl gestärkt werden. Diese Schlussfolgerung wird auch in anderen Ländern gezogen, freilich, aber in der Wahl der Maßnahmen ist man in Ungarn denkbar unzimperlich: Gleichschaltung der Presse, Entmachtung von Verfassungsgerichtshof und Nationalbank, Abhängigmachen der Justiz. Der Versuch einer radikalen Re-Magyarisierung Ungarns ist allerorts spürbar, und dass derzeit auch der Vertrag von Trianon gezielt ins Gedächtnis zurückgerufen wird, passt gut ins Bild. Durch diesen Friedensvertrag verlor Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg große Landesteile und büßte erheblich an Bedeutung ein. Der Aufkleber Nagy Magyarorzság – Großungarn – verleiht der mehr symbolischen als realen Forderung Ausdruck, die betreffenden Gebiete sollten dem Staatsgebiet wieder einverleibt werden. Das Nationale Glaubensbekenntnis – die Präambel der neuen Verfassung, die am 01.01.2012 in Kraft trat – stellt nicht nur das Land auf eine neue Basis (als Grundlagen werden Gott, Stephanskrone, Christentum und Nationalstolz genannt), auch der Staatsname wurde geändert: Kurzerhand nahm man der Republik Ungarn die Republik weg, das Land heißt seitdem schlichtweg Ungarn.

DIE MITVERANTWORTUNG
Dass die Ungarn ihr Land zurückhaben wollten, ließe sich sogar noch verstehen, wenn auch nur im übertragenen Sinn. Wer sich in Budapest umsieht, stößt an allen Ecken auf österreichische und deutsche Unternehmen, vor allem auf Banken, Versicherungen, Supermarktketten usw., und als mir das ungeheure Ausmaß dieser Präsenz bewusst wurde, erinnerte ich mich an die Angstmacherei rechter österreichischer Parteien, und ich dachte mir, dass sich eigentlich die Länder des ehemaligen Ostblocks vor der Osterweiterung hätten fürchten müssen, nicht die Länder Mittel- und Westeuropas.

Über die ungarische Politik und Wirtschaftslage klagen nun bezeichnender Weise aber inbesondere jene Unternehmen, deren Mitverantwortung an der unglaublichen Verschuldung des Landes (Stichwort Schweizer-Franken-Kredite), an der hohen Arbeitslosigkeit (ganze Industriegebiete wurden von westlichen Unternehmen gekauft, nur um sie zu schließen) und dem damit verbundenen Zulauf, den radikale Parteien verzeichnen, nicht geleugnet werden kann.

Freilich regt sich dort und da Widerstand. Ebenso gibt es Opposition, vor allem zivile, aber sie zögert, sich auch politisch zu formieren. Dass die ungarische Bevölkerung der Politik Viktor Orbáns so unkritisch gegenüberzustehen scheint, liegt dabei nicht nur an den mundtot gemachten Medien. Es liegt auch an der Angst vor diesem Regime und vielleicht am generellen Selbstverständnis der Ungarn, die sich nicht sosehr als eigentlicher Souverän ihres Staates zu verstehen scheinen, sondern vielmehr als Objekt einer intransparenten Politik.

Eine meiner ungarischen Bekannten erklärte mir die Sache so: „Ich gehe davon aus, dass du keine Meinung zur Schwerkraft hast. Du nimmst sie hin, weil sie ein Naturgesetz ist. Die Schwerkraft gut oder schlecht zu finden, wäre sinnlos. Einen solchen Umgang lernte ich als junger Mensch in Bezug auf Politik. Diktatur lehrt ein Volk keine Meinung zu haben. Jetzt kehren wir schrittweise dorthin zurück.“

HOFFEN AUF EINE NEUE GENERATION
Mein Unterricht an der Universität ist stark geprägt von der Arbeit an meinem aktuellen Dokumentarfilm freiräumen, der sich mit dem Bock Ma’s Festival und dem selbstbewussten gesellschaftspolitischen Engagement junger Menschen beschäftigt. Das steht der aktuellen politischen Tendenz in Ungarn klar entgegen. Ich bemerke aber, dass viele meiner StudentInnen große Neugier in Bezug auf Themen wie Selbstbestimmung, Bürgergesellschaft und ziviler Ungehorsam haben, wenngleich die Skepsis gegenüber persönlichem Engagement und offener Meinungsäußerung bestehen bleibt.

Auch beim Budapester Community Radio Civil Rádió, wo ich eine deutschsprachige Sendung gestalte, ist man offen für kritische Haltung, praktiziert sie zum Teil sogar. Allerdings ringt der Sender, wie alle freien Medien Ungarns, ums Überleben, und da letzteres vom Wohlwollen der regierungsgesteuerten Medienaufsichtsbehörde abhängt, ist man mit kritischer Berichterstattung vorsichtig geworden.

Wollte man es positiv betrachten, könnte man sagen: Es gibt nicht nur jenes Ungarn, das sich in alarmiernder Weise von der Demokratie entfernt, es gibt auch ein anderes Ungarn, das sich über facebook organisiert, zehntausende Menschen gegen neue Gesetze auf die Straße bringt und sich mit vorsichtigem Interesse antireaktionären Ideen öffnet. Realistisch betrachtet hat aber Viktor Orbán seine Vision eines nationalistischen Ungarn und, vor allem, seine eigen Macht, auf Jahrzehnte hinaus in die Grundstrukturen des Staates einbetoniert. Und solange seine Koalition über eine Zweidrittelmehrheit verfügt, ist der Nationalisierung des Landes kaum etwas entgegenzusetzen.

(Andreas Kurz)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*